Antijüdisches Relief darf an Kirche bleiben: Interview mit Dr. Martin Bock zu BGH-Urteil
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat kürzlich entschieden, dass ein als „Judensau“ bezeichnetes Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert an der Stadtkirche Wittenberg in Sachsen-Anhalt nicht entfernt werden muss. Durch eine Bodenplatte und einen Aufsteller mit erläuterndem Text habe die Kirchengemeinde das „Schandmal“ in ein „Mahnmal“ umgewandelt, sagten die obersten Zivilrichterinnen und -richter Deutschlands (Az.: VI ZR 172/20). Ein Gespräch mit Dr. Martin Bock, Pfarrer und Akademieleiter Melanchthon-Akademie Köln, zu dem BGH-Urteil:
Was bedeutet das Urteil des BGH für die Darstellungen am Kölner Dom?
Martin Bock: Das Urteil bedeutet, dass es keine einfachen Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit den antijüdischen Artefakten im Kölner Dom gibt. Das Urteil bedeutet aber auch, dass diese sogenannten Artefakte, für die es eine ökumenische und gesamtgesellschaftliche Verantwortung gibt, weiter einer Kommentierung bedürfen, die erstens für möglichst viele Menschen verständlich ist, die zweitens die tiefe antijüdische Verseuchung, die Israelvergessenheit der gesamten christlichen Theologie aufzeigt und drittens deutlich macht, dass wir uns Gottseidank seit einigen Jahrzehnten auf einem ökumenischen Weg der Umkehr und Erneuerung befinden. Anders als in Wittenberg, wo schon seit den 1980er Jahren eine „bußkritische“ Kommentierung der unsäglichen Darstellung der Judensau begonnen hat, ist dieser Aufklärungsweg in Köln noch ein recht frischer. Hier in Köln hat die Melanchthon-Akademie dazu den ersten Schritt getan, als sie 2002 eine Tagung zum Thema „Gewalt im Kopf. Tod im Topf“ veranstaltete. In diesem Rahmen trat der Aktionskünstler Wolfram Kastner auf, der vor dem Dom mit einem Plakat „Judensau!“ auf die Artefakte aufmerksam machte. Man kann sich vorstellen, was das für einen Wirbel gemacht hat, auch im Domkapitel. Der zweite Schritt ging dann von der Karl Rahner-Akademie aus. Das war 2006. Mehr als zehn Jahre später hat sich dann das Domkapitel das Thema zu eigen gemacht, Texte zu den Artefakten neu veröffentlicht und gemeinsam mit der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit eine Arbeitsgruppe „Der Dom und die Juden“ begründet, in der auch Vertreter der Synagogengemeinde und der evangelischen Kirche mitarbeiten. So ist deutlich, dass es eine gemeinsame getragene Verantwortung gibt, in Zukunft erkennbar zu machen, dass das Christentum seine antijüdische Geschichte so selbstkritisch wie nur möglich betrachtet.
Wie schätzen Sie das Urteil ein?
Martin Bock: Das Urteil sagt ja: Durch die verschiedenen Kommentierungen ist in Wittenberg das Schandmal zu einem Denkmal geworden. Deshalb sei die Position des Klägers, die Judensau könne nur durch Entfernung und Musealisierung aus dem „Verkündigungszusammenhang“ gelöst werden, nicht tragend. Ich kann diese Position verstehen, und dies wird wohl auch der Weg im Kölner Dom sein. Aber ich habe auch Verständnis für den Klageanlass: Herr Düllmann, der Kläger, der ja Jude ist, sagt ja: Die „Judensau“ als Teil einer Kirche ist Teil kirchlicher Verkündigung. Ich verstehe das so: Solange das Judentum in einer solchen Weise diffamiert wird, wie es die Judensau-Darstellung zu erkennen gibt, ist kirchliche Verkündigung verseucht, ist sie menschenfeindlich. Es ist in der Tat eine Zumutung für Jüdinnen und Juden, in kirchlichen Bauwerken immer noch solchen Darstellungen zu begegnen, die das Judentum blasphemisch beleidigen, ja die sogar Gott selbst beleidigen. Aber es geht wohl kein Weg daran vorbei, unsere Geschichte gerade nicht von den Schandflecken zu ‚befreien‘, sondern sie in ihrer Elendigkeit zu begreifen. Wir können ja auch das Neue Testament nicht von den Texten ‚befreien“, die judenfeindlich sind, zum Beispiel im Johannesevangelium. Wir müssen sie in ihrer Genese und ihrer Wirkung verstehen. Das Christentum ist halt auch eine geschichtliche Religion, die man ebenso geschichtlich kritisieren muss.
Wie sollte aus Ihrer Sicht mit diesen Darstellungen umgegangen werden?
Martin Bock: Im Kölner Dom bestand der letzte Schritt der Aufklärungsarbeit darin, dass sogar aus der Zeit nach der Shoa noch ein antijüdisches Artefakt in seiner skandalösen Judenfeindlichkeit offengelegt und interpretiert wurde. Es ist das sog. „Kinderfenster“, in dem sich Bilddarstellungen jüdischer Menschen finden, die an die Ikonografie des Nationalsozialismus erinnern. Dieses „Kinderfenster“ und die anderen Artefakte sind nun in einem Heft, also in einem schriftlichen Führer, und in einer Ausstellung, gut dokumentiert. Es gibt außerdem Führungen zum Thema, die jede Gruppe, die den Dom besuchen will, buchen kann. Beim kommenden evangelischen Kirchbautag im September wird es zudem einen Workshop zu diesem Thema geben. Aber ich meine, wir müssen noch niedrigschwelliger ansetzen und es jeder Besucher und jede Besucherin des Domes möglich machen, ohne zusätzlichen Aufwand darauf zu stoßen, wie im Dom zwischen Mittelalter und den 1960er Jahren mit dem Judentum umgegangen wurde. Um diese Frage kümmert sich zurzeit die Arbeitsgruppe „Der Dom und die Juden“, in der ich mitwirke. Davon, dass der Dom ein Mahnmal für ein erneuertes Verhältnis von Christen und Juden ist, sind wir noch entfernt. Zur Niedrigschwelligkeit gehört auch, dass die für jede Dorf- und Stadt-Kirche Verantwortlichen schauen: Wie sieht es bei uns aus? Welche Darstellungen erzählen vom Volk Israel und wie tun sie dies? Was vermittelt das ohne Worte in jedem Gottesdienst und wie wollen wir mit Worten vermitteln, dass wir es anders sehen?!
Text: APK
Foto(s): Frauke Komander
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