Antisemitismus: Warum fällt es uns schwer, aus der Geschichte zu lernen?
Ziel der Stiftungsabende in der Evangelischen Kirche Frechen ist es, aktuelle Themen aufzugreifen und zur Diskussion zu stellen. Dass der zunehmende Antisemitismus nicht nur viele Menschen bewegt, sondern auch jede Menge Redebedarf besteht, zeigte schon der große Zuspruch, den der Vortrag „Antisemitismus im Jahr 2025 … wie kann das 80 Jahre nach der Schoah sein?“ von Dr. Stefan Hößl fand. Der Studienleiter der Melanchthon-Akademie und ehemalige Mitarbeiter des NS-DOK stellte zunächst klar, warum politische Bildungsarbeit und das Wachhalten der Erinnerung an den Holocaust nach wie vor unerlässlich seien: „Es gibt eine Kontinuität rassistischer, antisemitischer und anderer menschenverachtender Gewalt“, erklärte er – und das sei ein Skandal.

Klischees hätten sich oftmals als gesellschaftlicher Konsens etabliert. Hößl versetzte jeglicher Selbstzufriedenheit in Sachen Antisemitismusbekämpfung einen Dämpfer und fragte: „Was wurde denn getan? Wie kommen wir auf die Idee, dass Antisemitismus beendet sein könnte?“ Es gebe (wie auch jüngste Umfragen unter Jugendlichen ergaben) „Leerstellen bei historischem Wissen“.
Bevor Hößl wirklich in das Thema einstieg, sprach er zunächst eine „Triggerwarnung“ aus, da sein Vortrag nicht ohne die Darstellung physischer und psychischer Gewalt auskommen werde.
„Woher kommt der Hass?“
Antisemitismus sei auch vor dem 7. Oktober 2023 real gewesen. Über Jahrzehnte seien Jüdinnen und Juden „komplett ausgeblendet worden“. Während seiner Zeit am NS-DOK hatte Hößl Erfahrungsberichte von Betroffenen gesammelt, die auf berührende Weise Einblick in verschiedene Aspekte des Antisemitismus geben. Da ist zunächst das „Othering“ („Verandern“), die Ausgrenzung einer Person oder einer Gruppe durch abwertende Distanzierung, von der Emily und Omer berichten, da ist die physische und verbale Gewalt, die bei Emily die verzweifelte Frage aufkommen lässt: „Woher kommt der Hass?“ Dies alles werde von den Betroffenen als reale Belastung und Bedrohung wahrgenommen.
Anhand von Zitaten zeigte Hößl auf, wie stark der 7. Oktober 2023 von Jüdinnen und Juden als Zäsur empfunden wurde. Israel sei seit dem Terrorangriff der Hamas kein Schutzraum mehr. Die Reaktion auf Israels militärisches Vorgehen, vor allem in der arabischen Welt, war ein hasserfüllter Antisemitismus, der sich z.B. in einem Aufkleber Bahn brach, der Benjamin Netanjahu als Vampir zeigte. Doch auch in Deutschland kam es vermehrt zu Anfeindungen und Übergriffen. Allein in den gut vier Wochen zwischen dem 7. Oktober und dem 9. November 2023 habe es laut den RIAS Meldestellen 994 antisemitische Vorfälle gegeben. Auch die Beratungsanfragen hätten zugenommen.

Hößl wies auf die Gefahr einer Engführung von Islamismus und Antisemitismus hin, wie sie zum Beispiel von der AfD propagiert wird. Die Warnung vor „importierten“ Antisemitismus sollte nicht blind dafür machen, dass es einen „Sockel“ von mindestens 20% der deutschen Bevölkerung mit antisemitischen Einstellungen gibt.
Anhand historischer Abbildungen machte Stefan Hößl anschaulich deutlich, wie sich antisemitische Stereotype (Juden als „Kindermörder“ und „Blutkultpraktizierer“) über Jahrhunderte fortgeschrieben haben. Der Mythos sei, erklärte Hößl, über 1000 Jahre alt und fand in einer Ausgabe des NS-Propagandablatts „Der Stürmer“ von 1934 dankbare (Wieder)Aufnahme.
Diese Zuschreibungen seien „Phantasmen“ und „mentale Projektionen“ betonte Hößl und illustrierte dies mit einem einprägsamen Vergleich: „Die Juden des Antisemitismus sind Shreks!“
„So wie im Nationalsozialismus darf man heute nicht mehr über Jüdinnen und Juden sprechen“, stellte Hößl fest. Wer dies täte, müsse mit Sanktionen rechnen. Allerdings äußere sich Antisemitismus nicht selten in einer Art „Umwegkommunikation“, z.B. indem Slogans aus der NS-Zeit „recycelt“ werden, an die Stelle der Juden jedoch der Staat Israel tritt.
Am Ende seines Vortrags nahm Hößl die Ursprungsfrage nach dem Warum wieder auf und benannte, was den Antisemitismus als Denkmuster so attraktiv macht: Er erklärt, gibt Orientierung und Sicherheit, entlastet und ermöglicht das Gefühl, auf der (moralisch) guten Seite zu stehen. Wenn antisemitische Stereotype als „geteiltes Wissen“ wahrgenommen werden, können sie sogar „identitätsstiftend“ wirken.
In der anschließenden Diskussion zeigte sich eine der Besucherinnen und Besucher berührt von den „oral statements“, die Hößl zu Beginn seines Vortrags zitiert hatte. Dieser wies darauf hin, dass bei Zeitzeugenberichten die Gefahr der Instrumentalisierung bestehe. Erfahrungen müssten für sich stehen dürfen und sollten nicht in ein, noch so gut gemeintes, pädagogisches Konzept gezwungen werden.
Ein Teilnehmer berichtete von Erfahrungen aus der eigenen Familie, wo die Indoktrination bei einigen Familienmitgliedern bleibende Spuren hinterließ. Eine Stadtarchivarin aus Kerpen wies darauf hin, wie viel Antisemitismus z.B. in den Entschädigungsakten aus den 60er Jahren zu finden sei und erinnerte außerdem daran, dass ein Mahnmal für Deportierte 1988 noch unter Polizeischutz eingeweiht werden musste.
„Eine demokratische Haltung fällt nicht vom Himmel“, bemerkte Stefan Hößl und mahnte: „Wir dürfen nicht bei der Geschichte stehenbleiben!“
Natürlich kam schließlich auch die Differenzierung zwischen Antisemitismus und legitimer Israelkritik zur Sprache. Hößl erläuterte, dass der Unterschied in der Faktenbasis bestehe, gestand jedoch zu, dass die Verunsicherung in dieser Frage auch ein „Problem der Trennschärfe“ sei. Schließlich rief er auch das „Empathiedefizit“ ins Gedächtnis, unter dem viele Jüdinnen und Juden nach dem 7. Oktober zusätzlich gelitten hätten.
Abschließend ließen sich die Ursachen für das hartnäckige Fortleben des Antisemitismus zwar auch an diesem Abend nicht klären, wohl aber zeigte Stefan Hößl Ansatzpunkte auf, an denen sich nicht nur präventive Bildungsmaßnahmen orientieren sollten, sondern die auch das ganz individuelle „Frühwarnsystem“ namens Menschlichkeit stärken könnten, das vor gut achteinhalb Jahrzehnten so kläglich versagte.
Text: Priska Mielke
Foto(s): Priska Mielke
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