„Qualität des Lebens geht vor Quantität“: Anne und Nikolaus Schneider sprachen über „assistierten Suizid“
Mit einer Erinnerung an ein seelsorgerliches Gespräch begrüßt Markus Herzberg, Pfarrer an der Antoniterkirche, die Gäste im vollbesetzten Antonitersaal. „Eine Pfarrwitwe hat mir in dem Gespräch offenbart, dass sie in die Schweiz reisen wird, um dort einen begleiteten Suizid zu begehen.“ Am Vorabend der Reise hat Herzberg die Frau noch einmal besucht. „Sie hat sich nie so frei gefühlt wie an jenem Abend.“ Der Pfarrer wies auf den Flügel im Antonitersaal: „Den hat sie uns geschenkt.“ Und fuhr fort: „Wer sind wir denn, anderen zu sagen, wie sie sterben sollen? Rechtlich ist das gerade ein unbefriedigender Zustand.“
Anne Schneider und ihr Mann Nikolaus, ehemals Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Ratsvorsitzender der EKD, waren zu Gast bei der Reihe „TheoLogisch“, einer Kooperation der AntoniterCitykirche und der Melanchthon-Akademie. Thema war die assistierte Sterbehilfe. Beide sehen Handlungsbedarf beim Gesetzgeber. Es bestehe eine Grauzone. 2015 hat der Bundestag ein Gesetz erlassen, dass die sogenannte „geschäftsmäßige“ Sterbehilfe unter Strafe stellte.
Dieses Gesetz wurde 2020 vom Bundesverfassungsgericht als nicht verfassungskonform verworfen. Zwei Gesetzesinitiativen zur Sterbehilfe im Bundestag erreichten im vergangenen Jahr nicht die erforderlichen Mehrheiten. Anne Schneider, 2014 an Krebs erkrankt, bezog sich auf Psalm 139. „Der Zeitpunkt unseres Sterbens scheint Gott festgelegt zu haben. Wir wissen ihn nur noch nicht. Wir sind in Gottes Hand.“ Aber man dürfe sehr wohl am Zeitpunkt des Sterbens zweifeln, wenn es nicht an der Zeit sei.
„Können Suizid und die Assistenz vor Gottes Willen verantwortet werden?“
„Wir müssen Gottes Festlegung nicht akzeptieren“, erklärte die ehemalige Religions- und Mathematiklehrerin. „Können Suizid und die Assistenz vor Gottes Willen verantwortet werden?“ lautete Nikolaus Schneiders Einstiegsfrage. „Ich kann nicht sagen, ich habe gebetet, und Gott hat mir gesagt, welcher der richtige Weg ist.“ Deshalb sei Kirche immer widersprüchlich. Die Bibel sei kein Rezeptbuch. Sie sei das Zeugnis Gottes, das man aufnehmen, verstehen und aktualisieren müsse. „Wir brauchen eine respektvolle Streitkultur“, sagte der ehemalige Ratsvorsitzende. Ziel sei die spirituelle Gemeinsamkeit. Seine Frau sagte, sie glaube immer weniger an Gottes Werke im irdischen Leben.
Die eigene Todesverantwortung stehe der Verantwortung Gottes nicht entgegen. Ob Gott der Herr über Leben und Tod sei? „Gott handelt auch in unseren Entscheidungen. Er verfügt nicht nur über uns.“ Ihr Mann entgegnete: „Ein nicht hinterfragter Drang zur Autonomie kann zum Götzen werden. Ich werde zum Maß aller Dinge.“ Beim Sterben erlebe man Autonomieverlust. Man werde gestorben. „Das Tatwort ,sterben‘ belügt uns.“ Und weiter zum Thema Autonomie: „Aus theologischer Sicht stehen wir immer in einer Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen.“ Wenn man sich in Beziehung zu Gott denke, sei man nicht mehr autonom. „Gott hat und behält das letzte Wort über den Tod. Das erschreckt mich nicht. Ich lebe in vielen Beziehungen. Seit 60 Jahren mit meiner Frau, Freunden und Weggefährten.“
Anne Schneider erschreckt der Satz. „Wir werden gestorben. Da fühle ich mich hilflos ausgeliefert. Ausgeliefert an Gott und dessen Termin.“ Sie möchte erreichen, dass die Entscheidung für einen assistierten Suizid theologisch nicht mehr mit dem Begriff Sünde verknüpft wird. „Gott hat die Menschen zur Verantwortung berufen und befähigt. Wir dürfen anderen die Menschenwürde nicht absprechen.“ Der Tod sei für Christinnen und Christen kein grausamer Feind, sondern der Weg zu einem freien Leben bei Gott, erklärte Anne Schneider. Dogmatisch herrsche Klarheit, entgegnete ihr Mann. „Wir dürfen Gottes Gericht nicht vorwegnehmen.“
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Und: „Der leidende Mensch braucht keine theologische Belehrung, sondern Anteilnahme und Begleitung.“ Wenn der Suizid Normalität werde, würden Türen geöffnet und das Leben nicht mehr als lebenswert erachtet, etwa bei Demenzkranken, anderen Erkrankten, Alten und Einsamen. Dann werde das Leben wertlos, wenn das Glück schwinde. „Menschen gehen nicht gedankenlos mit dem Suizid um.“ In Bezug auf die Gesetzeslage sagte Nikolaus Schneider, dass es Aufgabe des Staates sei, Leben zu schützen und nicht das Töten zu organisieren. Auch das Standesrecht der Ärzte verpflichte zu heilen statt zu schaden.
Die Strafe im Gesetz von 2015 habe nur die getroffen, die „geschäftsmäßig“, also regelmäßig und wiederholt, bei Suiziden assistiert hätten. Im ersten Paragrafen des Grundgesetzes heiße es „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ „Nicht das Leben“, fuhr Nikolaus Schneide fort. Der Staat gerate mit seinem Anspruch, Leben zu schützen, in Konflikt mit der persönlichen Freiheit des Menschen. Dazu gehöre auch, frei zu entscheiden. „Die Aufgabe, Leben zu schützen, muss mit dem Schutz der Menschenwürde zum Ausgleich gebracht werden.“
Pfarrer Herzberg und Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie, brachten mit konkreten Beispielen die unterschiedliche Sicht auf den assistierten Suizid auf den Punkt. Herzberg hatte einen Onkel, der an einem Tumor erkrankt war, der auf den Halswirbel drückte. Der Onkel war vom Hals abwärts gelähmt und hatte große Schmerzen. In einem katholischen Krankenhaus wurde ihm das selbstbestimmte, assistierte Abschiednehmen verwehrt. Bock kennt einen Vater, der seine schwerstbehinderte Tochter pflegt. „Dieser Vater erwartet von der Kirche ein starkes Wort zum Schutz des Lebens, wenn jemand sagt, dass das Kind nicht lebenswürdig sei. Gott ist ein Freund des Lebens.“
„Jedes Leben ist anders. Jedes Sterben ist anders. Jeder und jede sollte für sich selbst entscheiden. Das Sterben über Gesetze zu regeln, halte ich für schwierig.“ Nikolaus Schneider stellte klar: „Es gibt eine allgemeine Verunsicherung, was die finale Sedierung angeht. Schmerzen müssen auf jeden Fall konsequent behandelt werden. Die Qualität des Lebens geht vor Quantität.“ Anne Schneider setzte sich dafür ein, dass jeder über einen Behandlungsabbruch etwa bei einer Dialyse, frei entscheiden dürfe. Die finale Sedierung müssten katholische Krankenhäuser nicht selbst machen.
„Wem gehört mein Leben?“
Bock fragte in die Runde: „Wem gehört mein Leben? Gott oder dem Staat? Und welcher Gottesbegriff wird da verhandelt? Die patriarchalische Kirche schrieb vor, nach den Regeln des Katechismus zu leben. Diese Kirche hatte ein grundsätzliches Misstrauen in Freiheit des Einzelnen und die Verantwortung, zu der die Menschen berufen und befähigt sind. Diese Kirche hat das Gottesbild verdunkelt. Der liebende Gott stand da nicht im Mittelpunkt.“
Anne Schneider erinnerte daran, dass es in der Bibel keinen Text gebe, der den Suizid ablehne. „Mit und vor Gott leben in diesem Leben ohne Gott.“ Augustin habe den Selbstmord zur Todsünde erklärt. Töten im Krieg hingegen sei ausdrücklich erlaubt.
Ein Palliativmediziner aus dem Publikum erklärte, dass man in der Praxis den Begriff „palliative Sedierung“ verwende: „Wir verwenden Opiate wie Benzodiazepine. Ziel ist nicht die Tötung, sondern der Verzicht auf die Therapie. Das ist reversibel. Und es muss mit allen Beteiligten besprochen werden. Die palliative Sedierung steht im Widerspruch zu Tötung auf Verlangen.“
„Es ist nicht unsere Aufgabe, theologische Maßnahmen mit staatlicher Macht durchzusetzen“, erklärte Nikolaus Schneider. Seine Frau wandte ein: „Die Mehrheit der Menschen glaubt nicht an Gott. Gottesbilder wurden auch immer benutzt, um die Gesellschaft inhuman zu machen. Menschen, die an Gott glauben, sind nicht automatisch die humaneren.“
Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann
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