Das Gottesteilchen in uns – Theologin Johanna Haberer über die Seele in posthumanistischer Zeit
„Mit der Seele ist es wie mit dem kleinohrigen afrikanischen Waldelefanten. Der trägt lauter Samen mit sich herum, die er auf seinen Wegen durch den Urwald überall verteilt. So sät er den Dschungel – ein überlebenswichtiges Ökosystem für den Menschen und alles, was ist – immer neu aus. Wenn er ausstirbt, stirbt mit ihm der Wald und die ganze Landschaft. Der kleine Elefant ist in seiner Existenz bedroht – wie das Wort Seele in unserem Sprachgebrauch“, erklärte Professorin Dr. Johanna Haberer in ihrem Vortrag „Die Seele – eine Reanimation“. Über das Thema sprach sie vor kurzem in der Karl-Rahner-Akademie; die Veranstaltung fand in Kooperation mit der Melanchthon-Akademie statt.
„Stirbt dieses Wort aus, vertrocknen auch alle verwandten Worte, die in die Gedankenwelt der Seele gehören: Empfindsamkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Vergebung, Gewissen, Glaube, Liebe und Hoffnung“, so die evangelische Theologin und Publizistin, die bis 2022 Inhaberin des ersten deutschen Lehrstuhls für christliche Publizistik an der Universität Erlangen-Nürnberg war. Für das Zusammenleben der Menschen und für das Individuum hätte dieser Verlust dramatische Folgen. Denn ohne Seele und Seelenbegriff kein Mensch-Sein, keine Menschlichkeit und keine Mitmenschlichkeit.
Vertreibung aus der Wissenschaft
Seit tausenden von Jahren kennt die Menschheit das Wort Seele. In allen Sprachen. In allen Kulturen. „Wenn man versucht hat zu beschreiben, was den Menschen ausmacht, ist man um dieses Wort nicht herumgekommen“, so Haberer. Und nun soll das alles auf einmal vorbei sein? Nicht mehr zeitgemäß? Unwichtig, unwissend, altmodisch und out? Schon mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert begann das Austreiben des Seelenbegriffes aus der Wissenschaft und aus der wissenschaftlichen Debatte, verdeutlicht die Wissenschaftlerin und Kommunikationsexpertin.
Der Diskurs wurde in diesem Sinne „seelen-los“ in den 1980er-Jahren, erläutert Haberer: „Wer das Wort Seele gesagt hat, der gehörte schon eigentlich nicht mehr dazu oder ganz tief in den Bereich der Theologie.“ Aber nicht mehr zu den sonst noch ernst zu nehmenden Wissenschaften. Derzeit entwickele sich aber „so etwas wie ein Revival, darüber nachzudenken, was die Seele denn ist, was sie kann und was sie eigentlich meint“, gibt die evangelische Theologin gleich zu Beginn einen Ausblick und etwas Hoffnung.
Seele meint Lebendigkeit
Was ist denn nun die Seele? Darauf gibt es vermutlich so viele Antworten wie es Menschen gab und gibt durch alle Zeiten. Fest steht nur, dass es nicht das „Menschlein“ im großen Menschen ist, als dass sich der mittelalterliche Mensch die Seele ganz bild- und körperhaft vorstellte. „Der Begriff hatte zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedliche Bedeutungen, aber im Kern ist mit der Seele immer die Lebendigkeit gemeint. Das, was uns atmen lässt, was uns hoffen lässt, was uns weitergehen lässt, was uns in Bewegung hält“, sagt Johanna Haberer.
Die moderne Neuro-Biologie und die Kognitionswissenschaft „braucht die religiöse Vorstellung einer Seele nicht, um das Verhalten von Menschen und anderen Lebewesen zu erklären“, fasst die Professorin die aktuelle Debatte zusammen. Fühlen, Denken, Handeln – alles lässt sich nach dieser Überzeugung auf neuro-chemische Dynamiken und Prozesse zurückführen. „Man erinnert sich daran, wie Napoleon, als Pierre-Simon Laplace ihm das Sonnensystem erklärt hatte, fragte: ,Und wo kommt Gott in all das hinein?’ Worauf Laplace antworte: ,Sire, ich brauche diese Hypothese nicht.’ “
Einzigartig über den Tod hinaus
Aber kann der Mensch ohne die Seele existieren? Ohne die Idee einer Seele? Wenn wir von der Seele sprechen, „meinen wir unglaublich viel“, so Haberer. Sie nennt eine Fülle von Beispielen: lebendig sein, atmen, leben, Geist, Empfinden, Begehren, etwas wollen. „Wir meinen unseren inneren Menschen damit, unser Ich, die unverwechselbare Persönlichkeit, die Identität. Aber auch das Denken, das Wesen eines Einzelnen, das Subjektsein eines Einzelnen, seinen Verstand, seine Emotionen, auch seine Erinnerungen.“ Kurz: alles, was den Menschen und das Menschsein ausmacht.
Im Alten Testament werden die Menschen in den Psalmen immer wieder aufgefordert „dass die Seele sich erinnern möge, was Gott ihr Gutes getan hat“, beschreibt Haberer. „Also auch die Geschichte eines Menschen. Aber auch die Würde des Menschen, die Einzigartigkeit eines jeden Einzelnen.“ Die sehr religiös konnotierte Vorstellung davon sei, dass die Seele, dass diese Einzigartigkeit des Menschen etwas ist, was den Tod überdauert.
Geschichte der Seele in der Christenheit
Wie hartnäckig der Glaube an die Seele ist, zeige nicht nur der bis heute lebendige Brauch, ein Fenster zu öffnen, wenn ein Mensch gestorben ist, damit die Seele entweichen kann. Haberer nennt Beispiele aus dem alltäglichen Sprachgebrauch: „Wir schreien uns die Seele aus dem Leib. Wir stimmen aus tiefster Seele zu. Wir sind mit anderen Menschen ein Herz und eine Seele. Wir fühlen uns seelenverwandt. Ein Mensch spricht mir aus der Seele. Wir halten Leib und Seele zusammen. Oder was Sie auch aus Märchen gut kennen: das Motiv, dass einer seine Seele verkauft.“ Und wer das tut, für Besitz und Materielles, dem tut es am Ende nicht gut.
In der Geschichte der Christenheit sei „Seele“ auch ein kontaminierter, ein vergifteter Begriff, betont die Theologin und Publizistin, die lange Zeit auch Sprecherin beim „Wort zum Sonntag“ war und Mitherausgeberin des Magazins „Publik Forum“ ist. Jahrhundertelang habe man(n) diskutiert, wer denn überhaupt eine Seele habe und daher auch zum Abendmahl gehen dürfe. Ob Frauen eine Seele haben, sei etwa im 9. Jahrhundert von den Kirchenmännern debattiert worden. Dass Indigenas keine hätten – damit hat die katholische Kirche lange Zeit ihre Kolonialverbrechen und die Auslöschung anderer Religionen gerechtfertigt. Dabei, das hatte Haberer gleich zu Beginn des Abends deutlich gemacht, gebe schon das Alte Testament im Schöpfungsbericht der Genesis klar vor, dass alle Lebewesen, Mensch und Tier, eine Seele haben – und dass sie vom Schöpfer mit seinem Atem, Ruach, beseelt wurden.
Hirnforschung verändert Blick auf den Menschen
Die Hirnforschung verändere auf dramatische Weise „unser ganzes Menschenbild und damit die Grundlagen unserer Kultur, die Basis unserer ethischen und politischen Entscheidungen“, nimmt Haberer auf den Hirnforscher Wolf Singer Bezug. „Wir müssen etwas vermitteln, was einem Frontalangriff auf unser Selbstbild und unsere Menschenwürde gleichkommt.“ Singer habe versucht, den Menschen nicht als eine Art Programm, sondern als ein chemisch-physisches Zusammenwirken zu beschreiben.
Wenn der Begriff der Seele aufgegeben werde und man sage „der Mensch ist ja nur“ eine Ansammlung chemischer Prozesse, „dann ist der Mensch dessen beraubt, was wir seine Würde nennen und seine Einzigartigkeit“, so Haberer. „Er ist verwechselbar geworden und er verliert seine Einzigartigkeit.“ Das habe Konsequenzen für das zwischenmenschliche und gesellschaftliche Miteinander, für ethische und politische Entscheidungen.
Zwischen Schamanismus und Maschinenmensch
Derzeit erleben die Menschen einen kaum lösbaren Dualismus: auf der einen Seite eine Hinwendung oder Rückbesinnung auf Schamanismus, Anthroposophie und andere religiös-philosophische Konzepte sowie einen großen spirituellen Hunger und eine tiefe Sehnsucht nach Sinn. Auf der anderen Seite jene Trans- und Posthumanisten, die den Menschen erst zu einem Teil einer Maschine oder zum Maschinenmenschen machen wollen. In all dem zeigen sich auch Hybris, Selbstüberhöhung, und die Gefahr, dass der Mensch sich zum Gott aufschwingen will, zum Herrn oder zur Herrin über Leben und Tod und alles Sein. Andererseits beinhaltet es den nach christlicher Überzeugung wahren Kern, dass der Mensch seinem Wesen nach göttlich ist. Nicht nur gottesebenbildlich, sondern von der Schöpfung her gottähnlich – es sei denn, er missbraucht seine Freiheit und wird schuldig an dem, was Gottes Schöpfung oder das Leben eines anderen Wesens ist.
Der israelische Historiker Yuval Noh Harari, Autor von „Homo Deus“, der mit seinen Thesen „die ganze Welt aufgerührt hat“, beschreibe, dass mit dem Verabschieden des jüdisch-christlichen Menschenbildes „der Mensch selbst zum Gott wird und sich selbst entwirft und in die Datenreligion, wie er das nennt, weiterentwickelt“, erläutert die Professorin. Es werde so etwas wie ein posthumanistisches Wesen gedacht. „Das heißt, ich gehe dann auf, ich begreife mich selbst als Programm und die Vorstellung. Dass man sich dann hochladen kann, dass man sein Gehirn hochladen kann. Die Vorstellung, dass man den Körper nicht mehr braucht – all diese Vorstellungen sind in den geisteswissenschaftlichen Strömungen des sogenannten Posthumanismus zu Hause.“ In seinem letzten Buch allerdings klinge Harari anders. Da beschreibe er, wie er meditiert und dass er seine ganze Kraft nur aus der Meditation beziehe. „Da verstehe ich dann nicht mehr, warum er die Bücher vorher geschrieben hat“, so Haberer.
Gott das Schlusswort überlassen
„Wir wissen nicht, wo sie ist. Wir wissen nicht, was sie ist. Wir wissen nur, dass wir davon reden müssen!“ Daran lässt Johanna Haberer an diesem Abend in der Karl-Rahner-Akademie keine Zweifel in ihrem Vortrag über die Seele. Sie warnt eindringlich davor, den Begriff aufzugeben und plädiert für einen Dialog und ein Miteinander der Wissenschaften. In den USA seien erste Ansätze dazu erkennbar.
Die Seele, so sagt Johanna Haberer auch, ist „das Gottesteilchen in uns“. Sie selbst, sagt sie später im Gespräch mit dem Publikum, „hänge denen an, die sagen, es ist ein Irrtum der Geistesgeschichte im Christentum gewesen, die Seele als Entität zu denken und zu denken, dass sie irgendwie rausgeht aus dem Menschen und dann weiterlebt“. Dies wäre auch eine Herabwürdigung des Körpers und des Lebendigen, meint die Theologin. „Wenn wir von der Seele reden, reden wir immer vom ganzen Lebendigsein. Was dann ist, wenn wir tot sind, mit uns als Individuen – das überlassen wir gerne Gott.“
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Text: Hildegard Mathies
Foto(s): © Albani Psalter. Dombibliothek Hildesheim, HS St.God. 1 (Eigentum der Basilika St. Godehard, Hildesheim), S. 115. / Professorin Haberer: Vera Tammen
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